Dienstag, 29. Juni 2010

Wie ein Geschwätz

„Die Frau hat im Garten rumgeschrien“, sagen die Nachbarn. „Sonst schreit sie nicht im Garten rum, wenn dann hinter geschlossenen Türen.“
„Sie will ja nicht, dass ich die Mülltonne an die Straße stelle, wenn sie sie mal vergessen hat.“
„So leid tut sie mir auch wieder nicht, wenn sie sich nicht helfen lässt mit ihren Kindern“, sagen die Nachbarn.
Heute muss ich durchgreifen, dachte die Frau, wenn er heute wieder nicht in die Schule geht, muss ich ihn zwingen. Das kann ich mir nicht bieten lassen. Der Junge hatte die Haare nicht gekämmt und rührte Kababrocken in die Milch. Die Frau kratzte mit dem Messer Reste aus dem Marmeladenglas und schmierte sie über die Butter auf dem Toast. In der Mitte ließen sich einige Klumpen nicht verstreichen, sie rissen einen Krater in den Leib der Brotscheibe. Die Frau schob dem Jungen den Teller hin, einen Porzellanteller mit zwei Gänsen auf einer Wiese vor einem Holzhaus.
Hinter ihrem Haus gab es auch eine Wiese, mit Storchschnabel-Nestern, den Lanzenblättern vom Spitzwegerich und mit Hahnenfuß. Früher war Marcel bis zu den Achseln darin versunken. Dann war das Theater mit den Zecken gekommen. Die beiden Mädchen durften jetzt nicht mehr auf der Wiese spielen.
Nicole rieb mit Nutellafingern eine Stelle an ihrer Wade, die in der Mitte eiterte. „Lass deine Hände da weg!“, schrie die Frau sie an. Larissa zuckte zusammen und verschüttete Milch. Das Haus war im Sommer voller Mücken, am Ende der Wiese verlief ein Bach. Alle Kinder wachten mit Beulen auf, kratzten sich unter den Achseln und am Haaransatz. Bei den Einwohnern hieß die Gegend am Ortsrand: das Russenviertel, die Frau wusste das erst, seit sie hier wohnte, sie war ja aus der Stadt gekommen. Was man so Stadt nennt. Damals war der Mann ja auch noch da gewesen und die Schwiegermutter.
„Pack deine Sachen, Marcel“, sagte die Frau mit einer Stimme, die sich nicht wie eine Stimme anhörte und sich auch nicht so anfühlte, sondern wie etwas, das man sich nach dem Schlafen aus den Augen reibt. Marcel blickte nicht mal auf. Sein Kaba rotierte in der Tasse, als ob der Junge einen Strudel erzeugen wollte, der mit seinem Sog die Plastiktischdecke, die Toastkrümel, die Salamischeiben und das Nutellaglas in einen Abgrund unter dem Küchenboden reißen würde.
„Du hast gesagt, dass du in die Schule gehst, also gehst du auch in die Schule!“, sagte die Frau. „Kämm dir die Haare, Nicole!“ Durchs Fenster sah sie den Bus warten, der Nicole in den Kindergarten brachte, der Motor schnurrte im Leerlauf. Der junge Fahrer warf seine Zigarette auf die Straße, als Nicole aus dem Haus kam, und trat sie mit dem Absatz aus. Im Vorgarten lagen wieder Flaschen, heute war sogar Paulaner-Weißbier dabei. Die Jugendlichen warfen sie hinein, wenn sie von ihren Beutezügen und den Partys auf dem Schulhof der Grundschule zurückkamen. Nicole zappelte im Bus und sträubte sich gegen das Anschnallen; die Frau zog den Vorhang ein Stück weit in die Fenstermitte, sollte ja nicht jeder in die Küche gucken können.
„Mach mich nicht wütend!“ Die Frau sah dem Jungen zu, wie er von seinem Stuhl aufstand, den Rucksack von den Fliesen aufhob und in der Diele stehen blieb. Larissa schlüpfte durch die Tür und schwang sich die Riemen ihres Schulranzens über die Schultern. Unten am Ranzen klebte ein Stück Katzenkacke, die Frau hielt das Mädchen fest und zupfte den Kot ab, auf dem Stoff grinsten Delphine. Was den Kindern halt so gefällt. Sie haute Larissa auf den Po und warf den Brocken ins Klo.
„Ich hab Kopfschmerzen“, sagte der Junge. Er ging an ihr vorbei, als sie aus dem Bad kam, und rempelte sie auf dem Weg zur Treppe mit der Schulter an, den Blick auf die Dielen gerichtet. Unter seinen Schritten flogen Büschel aus Katzenhaaren und Staub in die Ecken. Die Frau stürzte hinter ihm her, krallte die Finger in seine Oberarme und zerrte ihn die Stufen wieder herunter. Sie stieß ihn zur Tür. Den Rucksack schmiss sie durch die offene Tür ins Freie, packte den Jungen am Handgelenk, schob ihn hinterher; mit einer Hand tastete sie in ihrer Hosentasche nach dem Hausschlüssel, stolperte auf die Gehwegplatten und knallte die Tür hinter ihnen beiden zu.
„Glaubst du, du kannst mich verarschen? In deinem Saustall oben im Bett liegen und dir dreckige Filme reinziehen? Wenn ich schufte?“ Der Junge bog ihre Finger um, befreite seine Hand, mit der Linken erwischte sie den Ärmel seines Kapuzenpullis und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er ist wie sein Vater, dröhnte es in ihrem Kopf. Wie mein Vater, der Drecksack. Marcel riss sich los, sie sprintete hinterher, erwischte ihn aber nicht, er verschwand zwischen Brennnesseln durch eine Lücke im Zaun.
„Du Arschloch!“, schrie sie ihm hinterher, „du verfickter Versager, komm bloß nicht wieder!“
Die Frau sammelte die Flaschen im Vorgarten ein, Flachmänner lagen zwischen Judenkirschen, Springkraut und Katzenminze. Sie warf den Müll in die Tonne, eine Flasche hieb sie mit Wucht auf den Rand, so dass sie in einem Scherbenregen zerplatzte. Im Abflussgitter der Einfahrt lag noch Laub vom Vorjahr, dazwischen kugelten Gehäuse von Weinbergschnecken. Die Frau grub sie mit dem Fuß aus, drehte sie um und betrachtete sie. Unten klebten rund um den Wulst der Schale Reste einer Silberhaut, der Körper in der Höhlung ähnelte einer Vulva. Die Frau kickte die Schneckenhäuser auf die Einfahrt und setzte ihren Fuß darauf. Die Schalen zersprangen, Schleim und Gelee quoll hervor. Weichtiere, dachte die Frau, ich hasse sie. Die sollen mich mal in Ruhe lassen.
Sie ging ins Haus, bückte sich nach Socken und Schulheften, schaufelte Klumpen aus dem Katzenklo, rieb den Bildschirm mit einem Lappen ab und fuhr mit dem Staubsauger in alle Ecken. Marcels Zimmer betrat sie nicht.

„Die Kleine ist ja zurückgeblieben“, sagen die Nachbarn. „Da hätte sich das Jugendamt mal drum kümmern müssen. Das war ja nicht mit anzusehen, wie die immer am Gartenzaun gestanden hat.“
„Tiere hat sie auch noch, und der Garten völlig verwahrlost.“
„Ein richtiger Schandfleck“, sagen die Nachbarn.
Die Frau ließ Larissa und Nicole vor dem Fernseher sitzen, damit sie nichts mitkriegten. Durch die Fenster quäkten Spongebob und Thaddäus in den Dunst des Juninachmittags. Später war Maschinengewehrfeuer zu hören. Marcel war immer noch weg, im Funkloch, ohne Netz. Er war nicht wiedergekommen.
In der Gartenecke, die an die Wiese und an den Schotterweg des Nachbarhauses angrenzte, schlachtete der Mann die Wachteln. „Den Stall lässt du mir da“, sagte die Frau, „da kann ich Hasen drin halten wie mein Papa, der ist groß genug, und Karnickel sind eh besser zum Heemachen. An den Tierchen da ist ja nichts dran.“ Sie roch den Bierdunst, der den Mann umgab, egal, die paar Schlucke brauchte er halt, wenn er mal auf was Acht geben musste. Der Mann knipste einen Hals mit der Rebschere durch, der Kopf fiel ins Gras, der Körper zappelte noch. „Die glaubt, sie lebt immer noch“, lachte die Frau.
Sie erhitzte Wasser, warf die Leiber hinein und begann mit dem Rupfen. Ihre Hände schwollen an, die Federn klebten an den Fingern; sie würgte den Brechreiz weg und machte weiter. Im Nebenzimmer lief jetzt Werbung, nichts ist unmööglich, toyoota, Haribo macht Kinder froh, die Mädchen sangen mit. „Macht ihr jetzt mal den Fernseher aus!“, rief die Frau nach drüben, „Larissa, du hast doch eh nur Müll im Kopf!“ Nicoles Windel roch. Wenn er nur wiederkommt, dachte die Frau und lauschte nach draußen. Ich kenn ihn ja auswendig, dachte sie, ich hab ihn ja auswendig gelernt in all den Jahren. Wenn er kommt, wenn er kommt, wenn er wieder wieder kommt. Wenn er wieder kommt, kriegt er Cola und Fritten. Sie strich sich mit dem Handrücken die Haare aus der Stirn.
Die ausgekleideten Leiber lagen auf der Spüle. Wenn das alles nur vorbei wäre, dachte sie, oder nie passiert. Warum ist er bloß so, dass er mir die Wut in die Kehle treibt, warum guckt er mich bloß so an als wäre ich eine Hexe? Bin ich Godzilla? Voldemort? Twoface? Ich bin doch auch ein Mensch. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie laut geredet hatte, Larissa stand auf einmal in der Tür mit Angst in den Augen. „Was willst du jetzt auch noch von mir“, blaffte die Frau sie an, „halt die Klappe, du nervst mich!“ Ihre Stimme war gar nicht richtig rausgekommen aus dem Hals. „Ich geh einkaufen“, sagte die Frau, „lass mich in Ruhe, sei so gut.“
Im Lidl legte sie Brot, Colaflaschen, Eis und Tiefkühl-Pommes aufs Band. Die Flaschen rollten auf dem Band hin und her, die Frau zählte die Münzen in ihrem Geldbeutel. Vor ihr stand ein Mann im Anzug, er hielt seine Weinflaschen fest und grinste sie an. Er schob ein Baby, das in seinem Kinderwagen schlief. Sein Bäuchlein über einer flauschigen Decke, Wimpernfedern; das Oval der Kinderwagentasche schützte sein Händchengezucke. Sie wollte sich zu ihm legen, sofort, und schlafen, auf einem sauberen Laken liegen und eine Mutter haben. Eine Mama, die sie in ihren Händen barg, ihren Kummer stillte und Marcel zurückholte.
Die Kassiererin sah sie an, sie wartete auf ihr Geld, der Mann im Anzug lächelte im Gehen: „Zehn Wochen alt.“ Wenn man sich’s leisten kann, dachte sie. Wenn man ein Mann ist und ne Arbeit hat. Wenn man keine Sorgen hat außer Wein trinken am Abend mit dem Weib und dann ab in die Kiste. Sie zahlte fünf Euro vierzig und schleppte die Plastiktüte hinaus.
Den Spätnachmittag verbrachte die Frau auf einer Bank am Waldrand, die Plastiktüte neben sich, in der das Eis schmolz und später auf den Boden tropfte. Libellen schossen zwischen Wiesenknopf und Schlangenknöterich über den Bach. Erst kühlte Schatten ihre Haut, dann stach die Sonne ihr in die Augen. Sie trank die erste Colaflasche leer und schmiss sie in die Wiese. Irgendwann schlief sie ein. Am Abend wachte sie auf. Ihre Kleidung roch nach Schweiß. Tränenspuren spannten ihr die Gesichtshaut, sie schnitt Grimassen.

„Die Kinder waren ja allein“, sagen die Nachbarn. „Die hat mir ja selbst die Tür aufgemacht, die Kleine aus der Schule, die nie was redet. Und das andere Blag saß in dem dunklen Zimmer mit einer dreckigen Windel.“
„Die haben ja Pizza gegessen, direkt aus der Gfriere, die haben die ja gelutscht wie ein Eis.“
Die Frau überlegte, ob sie da sitzen bleiben sollte. Aber wenn Marcel nachhause gekommen war? Dem hatte sie doch die Cola und die Pommes versprochen. Ob die noch zu gebrauchen waren? Sie hievte die Tüte hoch, ohne hineinzuschauen, und machte sich auf den Weg durch die Wiese. So müde war sie. Grasbuckel brachten sie fast zum Stolpern, Samen klebten sich an ihre Hose, das Haus schien auf sie zuzutreten in der Dämmerung. Wie das aussieht, dachte die Frau, wie das da am Ortsrand kauert, als ob da jemand einen Riesenhaufen hingemacht hätte. Als ob Gott Fritten gegessen und dann da hingekotzt hätte. Es brannte ja kein Licht, es war alles dunkel. Das müsste man mal abreißen, dachte die Frau, alles abreißen, weggehen und woanders sein.
Das Haus schien verlassen, aber es atmete. Sie fand Marcel in seinem Zimmer, auf dem Boden, er lag zwischen Chipsresten und seinen Kopfhörern. So geht das doch nicht, dachte die Frau, was soll ich machen? Jetzt ist er erst mal wieder da, jetzt lass ich ihn schlafen. Was soll man da überhaupt machen? Wenn Gott einem dauernd aufs Dach scheißt.
Sie setzte sich aufs Bett. Auf dem Boden lagen Socken und Unterhosen, sie stand auf, öffnete das Fenster und warf sie hinaus in die Einfahrt. Die Hosen und die Kopfhörer flogen hinterher, nach einigem Zögern auch der Fernseher. Die Frau kroch auf dem Boden herum, klaubte Schulhefte und Zettel zu einem Haufen zusammen, sie hob ihn hoch und schmiss alles aus dem Fenster; das Papier verteilte sich in einem Muster. Aus dem Bad holte sie den Mülleimer und kippte den Inhalt in die Einfahrt, im Zimmer der Mädchen fand sie Plastikspielzeug, Brote, eine Maus. Die Katzen brachten so was rein, weg damit. Wo waren bloß die Mädchen geblieben? Im Flur stand ein Regal, die Frau zerrte es zum Fenster, es krachte hinaus auf den Weg. Marcel drehte sich auf den Rücken, öffnete die Augen und sah sie an, dann schlief er weiter.
Die nächsten Stunden verbrachte die Frau damit, Kataloge, Fotos, Küchengeräte, Kabel, Porzellanfiguren, Sonnenbrillen, Lebensmittel, Plastiktüten, Kartons und Lumpen aus allen Schubladen, Regalen und Kellerecken zu holen und sie in die Einfahrt zu schleppen. Zwischendurch trank sie Cola. Die Federn und Eingeweide der Wachteln holte sie mit einer Schaufel aus dem Mülleimer, die Pommes und die Brotscheiben, auf denen sie geschlafen hatte, flogen wie Frisbees auf den Haufen, der jetzt schon bis zu den Küchenfenstern reichte. Ist eh alles nur Dreck. Sie ließ alle Fenster offen stehen und nahm sich den Garten vor. Aus der Wiesenecke schleifte sie den Wachtelstall in die Einfahrt, schmiss alle Gießkannen, Federballschläger und Eimer mit Schneckenhäusern obendrauf. Jetzt sah der Garten schon viel besser aus. Den Zaun riss sie auch ab, die Holzlatten würden gut brennen.

„Mit der stimmt doch was nicht“, sagen die Nachbarn.
Die Frau schob das Garagentor hoch, so gut es ging; es war schwierig wegen des Müllhaufens, der jetzt schon höher war als sie selbst und zu nah ans Tor gestürzt, aber sie schaffte es. Sie schüttelte eine Flasche Grillanzünder und spritzte den Inhalt über das Gerümpel, dann kippte sie noch Brennspiritus hinterher und warf ein Streichholz dazu, das aufglimmte und erlosch. Erst nach einer Weile brannte das Feuer, sie verbrauchte fast eine Schachtel Streichhölzer und schwitzte wie in der Hölle.
Dann schlugen Flammen aus dem Dreck. Die Frau stand daneben und sah zu. Bis in den ersten Stock hinauf schlugen die Flammen, es qualmte und stank. Die Katzen verdrückten sich in die Nacht.
Das Feuer rauschte, stöhnte und knackte, der Frau gefiel es, und sie sprach mit ihm. „Ich bekenne meine Schuld“, flüsterte sie. „Ich bereue.“ Der Qualm biss ihr Tränen aus den Augen, sie kauerte sich hin und spürte die Hitze am Leib. Aus der Ferne hörte sie schon das Martinshorn.

Sonntag, 13. Juni 2010

Warmbronn

Mann, ist das Gras schon wieder gewachsen! Ist ja auch fast ein Jahr her, dass ich hier war. Das Gras reicht bis zur Hüfte, die Waschbetonplatten sind von den Halmen bedeckt, man läuft wie auf Sahne, das Gartenhaus reckt sich mit abblätternder Holzimprägnierung und still inmitten der wuchernden Natur. Mutter ist schon im Haus verschwunden, mich hat der Wald festgehalten, in den ich den neuen Twingo gestellt habe, Erinnerung an Maiglöckchensuchgänge, Grabenüberhüpfproben, Fernglasvogelspechtschau.
Die Fichten sind so groß geworden am hinteren, dem Wald zugewandten Tor! Machen mich klein, die Märchenbäume. Besitzerstolz: unser Garten, unser Häusle, unsere Vögel, Körbe voll mit unseren Erdbeeren. Durchgelüftet, müde und mit nackigen Knien sitze ich im Ford Kombi auf der Rückbank, die Tante singt und riecht nach schwarzen Sachen.
Hallo Stein! Hier kennt mich noch jeder, die Schwarzkiefer nickt, der verlandete See grüßt Willkommen. Sie rühren mich mit ihrer Geduld, es ist ihnen egal.
Die Fensterläden des Gartenhauses schlage ich mit der gleichen Bewegung nach außen wie früher, die Tischdecke ist mit silberfarbenen Spangen befestigt und hat auch immer noch Kaffeeflecken. Die blassgelbe Spülschüssel wartet umgedreht über dem Hocker auf Seifenschaum. Selbst Mutter trägt wieder ihre grüne Gartenhose, bückt sich, um sie anzuziehen, mit Söckchen über fleischfarbenen Nylonstrumpfhosen, braunem Wollschlüpfer und einem Feinrippunterhemd, ich sehe pikiert weg. Eine dicke Staubschicht liegt über dem alten Radio, dunkelbraunes Holzimitat, darin die Spiele der Fußballweltmeisterschaft neunzehnhundertvierundsiebzig. Spinnweben in den Ecken der hölzernen Doppelwand, in der einst Mäuse hausten, der höchste Grusel außer den heftigen donnerschlagenden Gewittern über Böblingen. Das Mäusenest hob Mutter beherzt mit dem Spaten aus, und wir empfanden Dankbarkeit und Abscheu. Ich war tapfer in jenen Jahren, streichelte die warzige Kröte.
Mit dem Kaufinteressenten unternehme ich einen Gang übers Grundstück, zeige ihm Flieder, Kompostsilos, Pfirsichbaum und mache ihn auf zwanzig Jahre Brennesseljauche aus dem Fass hinter den zermatschen Wildbirnen aufmerksam. Er meint, der Garten sei so lang und schmal. Auf dem Rückweg von der Wildsträucherecke gesteht er schließlich, dass er eigentlich das Nachbargrundstück erwerben wollte. Tja, das haben wir schon verkauft, aber dieses ist viel besser! Auf der unkrautdurchwucherten Wiese machen sich Ulmenschösslinge breit, hier stand mal ein Schaukelgerüst und da das Pfingstrosenrondell, es ist nicht mehr viel davon übrig. Nein, wirklich, der Garten sieht aus wie ein Handtuch, ich sage es Ihnen lieber offen und ehrlich, verspricht er uns.
Der Entwicklungsingenieur freut sich, als ich ihn nach seiner Arbeit frage, so kann er von Cashflow und Produktdesign reden.
Ich freue mich auch, denn er hat schöne warme Augen.
Mutter berichtet, dass der Großvater den Vater nie was hat in die Hand nehmen lassen, und ich hab das schon so oft gehört.
Wir freuen uns, dass wir hier in unserem verwohnten verlotterten Gartenhäuschen sitzen mit den schmutzigen Gartenschuhen an den Füßen, auf parkettimitierendem erdstaubigem Linoleum, wir freuen uns so, dass wir fast eine Zigarette zusammen geraucht hätten. Es ist schön, mit diesem dunkelhaarigen freundlichen Ingenieur in seinen Radlerklamotten von alten Zeiten zu plaudern, und das Beste ist, dass er den Garten gar nicht kaufen will.
Der gehört ja schließlich uns.

Dienstag, 8. Juni 2010

Fes, 25.5.2010

Ich bin wieder da.
Als ob mich etwas einhüllt, sich etwas um mich legt.
Als ob ich selbst mich um mich lege, mich beruhige.
Mein Herz läutet. Ich läute es, wie man Kirchenglocken läutet zum Kriegsende.
Es ist ein Ganzes, ein aus Licht gemachtes ganzes Marokkorisotto. Ein Schweben im Licht, nein, nur das Herz schwebt. Da im Brustraum, es ist leichter geworden. Ich spüre es so deutlich. Dass ich ein Herz habe.
Jetzt scheint mir, dass ich Mutter bin. Umgeben von Müttern und Vätern, gebettet zwischen Onkel und Vettern, verstaut inmitten von Babies und Schwägern. Die Umhüllung besteht aus Leibern. Es leibt sich hier einfacher. Alle diese Körper, die draußen wandern, riechen und glühen. Leiber von Tieren auch. Der warme träge Leib der Hitze.
Die Hitze kleidet mich aus und dörrt mich, lässt mir nur die Knochen und das feuchte Fleisch. Eine klebrige süße Dichte.
Und mein neu entdecktes Herz klopft. Mein neu erfundenes Blut strömt durch meine engen Adern. Sie weiten sich in der schweren Wärme. Sie gleiten durch mein Fleisch, sie kriechen durch meinen Balg und tragen das warme Blut bis in die hintersten Winkel meiner Seele.
Da bin ich wieder, im Morgenland, aus dem Abendland. Im Wüstenland, im Land der alten Taxis, im Dirhamland, im Lammfleischland, im Moscheenland aus dem Kirchenland, im warmen Farbenland, im Land der geheimen Sprachen, im Vaterland aus dem Mutterland, im Schwalbenland, im Binnenland. Aus dem Außenland, aus dem Ausland. Und es scheint, als ob hier Platz für mich wäre.
Es scheint, als ob nicht nur die Besten etwas werden. Als ob wir keine Giftspucker, Ausbeuter, Ölverschlinger wären, schäbige Geldmenschen. Als ob wir einfach kleine Wesen wären auf der großen Welt.
Und hier zuhause.

Mittwoch, 19. Mai 2010

"Amerikanische Spezialeinheiten haben einen der Taliban, der bei dem Anschlag auf eine Bundeswehr-Einheit am 2. April bei Kunduz beteiligt war, identifiziert und getötet", steht im SPIEGEL von dieser Woche. "Sie kamen damit dem Versprechen nach, das hochrangige US-Militärs dem deutschen Isaf-Stabschef Bruno Kasdorf informell gegeben hatte: die Hintermänner der beiden Anschläge vom April, bei denen sieben Bundeswehrsoldaten starben, zu jagen, bei Möglichkeit festzunehmen, aber notfalls auch umzubringen." Was ist das denn? Da jagen Amerikaner Taliban-Kommandeure in Absprache mit der Bundeswehr als Rache für den Tod von Soldaten? Wie bei der Mafia, Blutrache? Ist das etwa mein Anliegen als deutscher Bürger, hab ich da auch was dazu zu sagen? Was machen die denn da?

Dienstag, 18. Mai 2010

Meine Nachbarin schob ihr Fahrrad in die Einfahrt, als ich von der Arbeit kam. Ich grüßte sie und fragte, wie es ihr geht, und sie fing an zu weinen.
Gestern haben wir meine Schwiegertochter beerdigt, sagte sie, die alte Frau mit ihrem Fahrrad. Der Fahrradkorb war so schwer beladen, dass das Fahrrad immer wieder umzukippen drohte, sie hielt es die ganze Zeit am Lenker fest. Ich stand neben der Restmülltonne, der Zaun zwischen uns, aber egal, wo wir standen, sie hat mir die ganze Geschichte erzählt. Natürlich hat sie nicht wirklich geweint, nicht geschluchzt, kein Taschentuch gebraucht, so was tut die nicht, die ist hart im Nehmen, die war doch Kind im Krieg, auf dem Dorf.
Ich denke die ganze Zeit daran, hat sie gesagt, heute morgen war ich auf dem Friedhof, solche Stapel von Briefen liegen da. Ich muss immer dran denken, Tag und Nacht, das wird man gar nicht los. Dass sie da liegt, in dieser Kiste, das stelle ich mir immer vor, und dann fließt noch einmal eine Träne über ihr Gesicht, und sie wischt sie mit dem Handrücken weg.
Am Krebs ist sie gestorben, aber man hat bis zum Schluss nicht gefunden, wo der eigentlich sitzt. Erst hieß es in der Bauchspeicheldrüse, dann haben wir uns alle Sorgen gemacht, Bauchspeicheldrüse, das ist schlimm, aber der Doktor Braun hat dann nichts gefunden, da waren wir wieder erleichtert. Da haben wir wieder Hoffnung geschöpft. Angefangen hat es mit Rückenschmerzen. Sie kam nicht mehr auf das Wort Bandscheiben, jedenfalls ist alles untersucht worden und vor Weihnachten 2008 war es dann so schlimm, dass sie in die Röhre musste, aber die Ergebnisse wollte sie erst wissen, nachdem sie mit ihrem Mann, also dem Sohn, noch am Bodensee war in Urlaub. Dann hieß es auf einmal Krebs. Dann hat sie Chemo bekommen und die Haare sind ausgegangen und sie ist ganz gelb geworden.
Das kann sich keiner vorstellen, wie sie am Ende ausgesehen hat, sagte sie. Sie war doch noch jung, neunundvierzig Jahre alt. Und stirbt einfach so weg. Zur Beerdigung ist ihre Schwester gekommen, aus Bayern, die haben ja nicht viel miteinander zu tun gehabt, aber die hat gesagt, sie hätte sie nicht wieder erkannt, nie hätte sie sie erkannt. Ein ganz kleines Köpfchen hat sie gehabt am Schluss.
Sie war ja noch im Krankenhaus. Sie war schon so schwach, es ging ihr so schlecht, da hat der Sohn im Krankenhaus angerufen in der Nacht. Und sie konnte nicht mal mehr laufen, hinausgetragen haben sie sie, und da musste sie wieder weinen. Danach hat sie ein Pflegebett bekommen, und sie hat gesagt, wie sieht das denn aus, mit dem Bett da im Wohnzimmer, das geht doch nicht. Was sollte man denn da sagen, ich hab gesagt, Margot, wenn das alles vorbei ist, dann kommt das sofort wieder raus, das Bett, das kriegen wir hin, wenn du wieder gesund bist.
Am Donnerstag ist sie gestorben. Sie kam ja noch mal heim aus dem Krankenhaus. So schwer war das, da hat ja noch zwei Mal das Herz ausgesetzt, und dann kam sie doch wieder zurück. Dann kam sie doch wieder zu sich. Mein Sohn hat den Notarzt gerufen, und die haben dann gesagt, wenn es vorbei ist, soll er gleich anrufen, dann kommt sie gleich wieder. Die war so nett, das kann man sich nicht vorstellen. Die ist gekommen und hat sie gewaschen und frisch angezogen, eine ganz junge Frau war das. Und dann saßen wir da, und ihre Augen waren wieder aufgegangen, also die waren schon geschlossen, aber dann wieder so ein bisschen offen, und ich hab gesagt, Jörg, sie sieht ja ganz so aus, als ob sie lebt. Das ist doch gar nicht zu fassen.
Sie wollte nicht sterben, sagte ich, sie hat gekämpft.
Ja, wer will schon sterben, die wollte leben, sagte meine Nachbarin. Heute morgen war ich da, das ist ja so leer, das Haus. Ich weiß gar nicht, wie das gehen soll in dem leeren Haus. Einen schönen großen Teich haben sie im Garten, der sieht aus, sonst hatte sie immer alles schon gepflanzt und überall Kübel und Töpfe hingestellt. Was eine Frau halt alles macht. Ich kann es nicht fassen.
Die ganze Zeit hielt sie sich an ihrem Fahrrad fest, und ich lehnte mich gegen den Deckel der Mülltonne, ab und zu stieg ein Rauch nach verfaulten Lebensmitteln daraus hoch, und die letzte Wurfsendung klemmte im Deckel der Papiermülltonne, aber egal. So haben wir uns noch nie unterhalten, über unseren Gartenzaun. Einer fuhr her im roten Caddy, bisch mit deim neuen Fahrrad unterwegs, sagte er, sie begrüßte ihn strahlend, die Nachbarin, mit ihrem wettergegerbten fünfundsiebzigjährigen dominanten Frauenlächeln, und dann erzählte sie weiter und irgendwann dazwischen sagte sie auch mal, das tut richtig gut, sich das alles mal von der Seele zu sprechen, das tut jetzt richtig gut.